Viele Covid-Patienten mit Migrationshintergrund?

„Nicht ganze Etnien stigmatisieren“

30.03.2021: Im Interview mit Emanuel Hege erklärt Argyri Paraschaki, Geschäftsführerin des Landesverbandes der kommunalen Migrantenvertretungen, warum der scheinbare Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Covid-Erkrankung ein Trugschluss ist und ärgert sich über Schuldzuweisungen.

Liegen in deutschen Krankenhäusern überproportionale viele Menschen mit
Migrationshintergrund? Darüber berichteten etwa „Focus Online“, der „Tagesspiegel“ aus
Berlin, in Österreich zitiert „Die Presse“ den Wiener Arzt Burkhard Gustorff mit den
Worten „60 Prozent unserer Intensivpatienten haben Migrationshintergrund“.

Ärzte in Deutschland und Österreich berichten, dass viele Covid-Patienten auf Intensivstationen einen Migrationshintergrund haben, diesen Eindruck soll auch Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts, bestätigt haben. Gibt es eine Erklärung für dieses Phänomen?
Nein, eine Erklärung habe ich nicht. Soweit ich das mitbekommen habe, gibt es gar keine
statistische Grundlage dafür. Stattdessen gab es eine Anfrage beim
Bundesgesundheitsministerium, ob Nationalität, Religion oder Geburtsort der Infizierten
erfasst wird. Die Antwort war, dass das nicht passiert – es kann sich also nur um subjektive
Einschätzungen handeln, die nicht belegt werden können.

Aber diese subjektive Wahrnehmung wird auch von Ärzten bei uns in der Region
geteilt – beispielsweise in Tuttlingen. Deswegen würde ich trotzdem um einen

Erklärungsversuch bitten?
Ich denke, wir sollten das Thema etwas breiter betrachten – wir wissen ja, dass Migranten
stärker von Armut betroffen sind. Außerdem wissen wir, dass sie seltener zu Vorsorgeuntersuchen gehen. Das liegt unter anderem daran, dass viele Angebote schlicht
nicht bekannt sind, aber auch an der Sprachbarriere. Dann spielt vermutlich mit hinein, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger in beengten Wohnverhältnissen leben, und das mit mehreren Familienmitgliedern – das begünstigt wohl das Infektionsgeschehen. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass sich die aller meisten Menschen mit Migrationshintergrund an die Regeln halten, es sind die Rahmenbedingungen die dazu führen, dass es mehr Infektionen gibt.

Ist es also eher eine Frage der Armut als eine des Migrationshintergrundes?
Genau, es ist ein soziales Thema. Menschen mit Migrationshintergrund sind eben
überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen, und arbeiten häufig in prekären
Arbeitsverhältnissen. Aber ich will auch klarstellen: Die Menschen immer in einen
Rahmen zu stecken, sie würden trotz Pandemie große Hochzeiten feiern, das ist
gefährlich. Man generiert dadurch Schuldige.

Wird mit zweierlei Maß gemessen?
Das glaube ich, ja. Überlegen Sie sich mal, Ischgl wäre bei einem großen Event mit
migrantischem Hintergrund passiert. Das wäre ein ganz andere Aufhänger gewesen. Man
sieht das auch an den Corona-Leugner – ich stelle mir vor, das würden Menschen mit
Migrationshintergrund machen, dann hätten wir eine ganz andere Diskussion.
Während sich der Großteil an die Regeln hält, gibt es bestimmt einige mit
Migrationshintergrund, die sich nicht daran halten. Aber deswegen muss man nicht gleich
ganze Ethnien in Schuldhaft nehmen. Dieses Stigmatisieren spaltet.

Sie haben vorhin die Sprachbarrieren als Mitgrund für die schlechtere Gesundheit
angesprochen. Haben die Behörden genug getan, um Menschen mit schlechten
Deutschkenntnissen zu informieren?

Wir haben im gesamten letzten Jahr erlebt, dass sich Verwaltungen und Behörden viel
Mühe gegeben haben, Informationen in mehreren Sprachen zu übersetzen. Ich glaube,
dass das nicht das Problem ist.


Was ist es dann?
Man kann mehr tun, um migrantische Vereine als Multiplikatoren oder Bindeglieder
stärker in den Fokus zu setzen. Meistens fehlt es bei den Vereinen aber an Personal. Wenn man dort entsprechend Personen platziert, die als Ansprechpartner fungieren, würde die ganze Information besser klappen. Migrantenorganisationen sehen sich als Katalysatoren der Teilhabeförderung. Sie sind es, die durch ihre Zugänge zu den Einwanderergruppen die Türen zu Politik, Bildung, Gesundheits- und Pflegewesen, Beteiligung allgemein öffnen können. Die Selbsthilfe spielt hierbei eine wichtige Rolle. Dies gilt es zu fördern.

Sie sitzen außerdem im Rundfunkrat des SWR. Was können denn Medien tun, um
Menschen mit Migrationshintergrund mit ihren Infos besser zu erreichen?
Spannende Frage: In der Pandemie haben wir gesehen, dass ganz viele Themen nicht
besetzt werden. Das liegt daran, dass viele Journalisten die Probleme der Migranten gar
nicht sehen, weil sie ganz anders sozialisiert sind. Es wäre mein großer Wunsch, dass
Redaktionen einerseits etwas vielfältiger besetzt sind. Zum anderen, dass Journalisten
mehr aus anderen Lebenswelten berichten. Beispielsweise gab es im vergangenen Jahr wenig Berichterstattung über die Auswirkungen auf Leiharbeiter, prekär Beschäftigte und Mini-Jobber. Im Gegensatz dazu wurde total viel über das Thema Home-Office berichtet. Aber: Wir sind da auf einem guten Weg.

Greifen viele Menschen mit Migrationshintergrund nicht so oder so auf die Medien in
ihrer Landessprache zurück?

Wir müssen uns mal Gedanken machen, warum einige dieser Menschen die deutschen
Medien nicht konsumieren. Klar, es gibt welche, die wollen per se nichts damit zu tun
haben. Aber ganz viele konsumieren ihre Medien, weil sie sich da verstanden fühlen.
Wenn ich möchte, dass der andere meine Inhalte konsumiert, muss ich ihm etwas bieten,
mit dem er sich identifizieren kann.