Sachkundige Mitglieder aus dem Internationalen Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderats verabschieden Rundbrief am 13.05.2020
„Die Covid-19-Pandemie wirkt sich weltweit auf das Leben der Menschen aus, so auch hier in Stuttgart. Darüber wird viel diskutiert, bislang jedoch zu wenig über die Auswirkungen von Corona auf den Alltag unserer Bürgerinnen und Bürger aus eingewanderten Familien.
Der Auftrag der Sachkundigen Mitglieder des Internationalen Ausschusses ist es, den Gemeinderat und die Stadtverwaltung zu Fragen in Zusammenhang mit Migration und Integration zu beraten. Aufgrund der Verordnungen zum Infektionsschutz sind die Sitzungen des Internationalen Ausschusses und anderer beratenden Ausschüsse seit März dieses Jahres ausgesetzt. Da derzeit noch nicht absehbar ist, wann die beratenden Ausschüsse des Gemeinderats wieder tagen werden, wollen wir mit diesem offenen Brief einige migrationsspezifische Aspekte benennen, die es künftig verstärkt zu berücksichtigen gilt.
Die Grundversorgung in Stuttgart funktioniert gut, weil auch sehr viele Migrantinnen und Migranten in sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten – als Fachkräfte im Gesundheitssektor (Kliniken, Altenpflege, Arztpraxen etc.), als Verkäuferinnen in Lebensmittelgeschäften, als Fahrer/innen bei der SSB, in der Abfallwirtschaft und bei Paketzustellern, als Beschäftigte im Handwerk und Industrie usw. Oft sind es Frauen im Niedriglohnsektor, die das geregelte Leben am Laufen halten. Sie können nicht im Home-Office arbeiten, und zugleich müssen sie unter oft beengten Wohnverhältnissen auch das Home Schooling ihrer Kinder organisieren.
Auf der anderen Seite sind überproportional viele Migrantinnen und Migranten vom derzeitigen Arbeitsverbot im Hotel- und Gaststättengewerbe und in anderen Branchen existenziell betroffen.
Dies betrifft auch ausländische Studierende aus Drittstaaten, die in Baden-Württemberg Studiengebühren zahlen und derzeit ihre Lebens- und Studienkosten nicht durch Nebenjobs finanzieren können.
Vom Verdienstausfall sind nicht nur die Familien hierzulande betroffen, sondern auch deren Angehörige in den Herkunftsländern, die vielfach von den Eingewanderten finanziell unterstützt werden. Die aktuellen Grenzschließungen belasten insbesondere multinationale Familien, für die grenzüberschreitende gegenseitige Unterstützung (nicht nur in finanzieller Hinsicht) oft von existenzieller Bedeutung ist.
Die engen Wohnverhältnisse in den Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete wurden bereits in den Krisenstäben von Verwaltung und Politik thematisiert, und es wurden Schutzräume geschaffen, was wir sehr begrüßen.
Geflüchtete haben mehrsprachige Videospots zum Infektionsschutz gedreht, und Flüchtlingsfrauen nähen Mund-Nasen-Schutzmasken. Solche Initiativen gilt es noch stärker zu fördern.
Wir beobachten des Weiteren eine Zunahme von Fake News und Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Neben der Kritik an den Verordnungen der Regierung gibt es auch Schuldzuschreibungen und rassistische Ausfälle gegen „fremdländisch aussehende“ Menschen, wie beispielsweise Personen ostasiatischer Herkunft oder Roma.
Aufklärungsarbeit und Solidarität mit den benachteiligten Bevölkerungsgruppen sowie Gelegenheiten des interkulturellen und interreligiösen Austausches sind durch die längere Aussetzung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Vereinen, Religionsgemeinschaften und interkulturellen Initiativen besonders eingeschränkt.Wir begrüßen deshalb Online-Angebote zur politischen Bildung und Antidiskriminierungsarbeit in Bildungseinrichtungen, Migrantenvereinen und anderen Organisationen.
Beim Corona-Krisenmanagement von Bund, Land und Stadt geht es nicht nur darum, den Virus zu bekämpfen, sondern ebenso die sozialen Folgen abzumildern.
Die Maßnahmen zum Infektionsschutz und zur Grundversorgung richten sich an alle Bürgerinnen und Bürger, was ein richtiger Ansatz ist. Dennoch sollten die spezifischen Belastungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gezielt in den Blick genommen werden, wie zum Beispiel die Auswirkungen des fehlenden Kita- und Schulbesuchs auf Kinder und deren Eltern – mit verstärkten Belastungen bei Kindern mit Behinderungen sowie bei Kindern in Flüchtlingsheimen. Dasselbe gilt für die Situation älterer Menschen – mit verstärkten Belastungen bei Altersarmut und/oder bei unzureichenden Deutschkenntnissen (betrifft einen Teil der älteren Migrantinnen und Migranten).Bei Mehrfachbelastungen spielen migrationsspezifische Aspekte oft eine Rolle und sollten deshalb beim Krisenmanagement und in der öffentlichen Diskussion immer mit berücksichtigt werden.
Migrantenorganisationen informieren ihre Mitglieder teilweise digital in den Herkunftssprachen über die Verhaltensregeln zum Infektionsschutz. Die vielfach notwendige persönliche Beratung bei Krisen kann jedoch nur bedingt online erfolgen. Und auch der Verweis auf telefonische Beratungsangebote der Fachdienste hat seine Grenzen, wenn dort mehrsprachige Angebote fehlen.Die Mehrsprachigkeit der Migrantenorganisationen sollte als eine wichtige Ressource in der aktuellen Krise von den offiziellen Stellen noch stärker genutzt werden.
Als sachkundige Mitglieder des Internationalen Ausschusses bringen wir unsere Empfehlungen zur Bewältigung der aktuellen Krise gern in die derzeit tagenden Arbeitsgremien ein.“