Der Landesverband der kommunalen Migrantenvertretungen unterstreicht seine Forderung nach herkunftssprachlichen Unterricht in staatlicher Verantwortung
Über ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg haben Migrations-geschichte. Auch wenn die Zahl nach Deutschland geflüchteter Personen verglichen mit 2015 sinkt, zeigen die statistischen Landesdaten fortlaufende erhebliche Zuwanderung, insbesondere aus EU-Staaten.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern gewinnt an Bedeutung, so dass Schüler, Auszubildende und Studierende mit guten schriftlichen wie mündlichen Kenntnissen ihrer neuen Sprache Deutsch UND ihrer Herkunftssprachen und einer hier erworbenen Ausbildung die gefragten Fachkräfte von heute und erst recht von morgen sind.
Da viele Schülerinnen und Schüler zuhause eine zweite Sprache sprechen, liegt es im Interesse des Landes, zum einen das Erlernen der deutschen Sprache so intensiv zu fördern, dass jedes Kind den Anschluss schafft UND zum anderen das Potential der Herkunftssprache zu nutzen.
Es liegen ausreichend valide Forschungsergebnisse vor, die einen positiven Effekt der guten Kenntnis von Herkunftssprachen auf die Deutschkompetenz und auf die fachlichen Leistungen insgesamt aufzeigen. Dies stützt auch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive die Forderung nach Aufnahme der Herkunftssprachen in den Fächerkanon.
Das funktioniert allerdings nicht automatisch. Man braucht ein schulisch-unterrichtliches Gesamtkonzept sprachlicher Bildung, bei dem die Bildungspläne des Herkunftssprachenunterrichts mit denen anderer Fächer didaktisch und methodisch eng verknüpft sind, so dass koordiniertes Sprachenlernen möglich wird (koordinierte Zweisprachigkeit). Das kann vom Herkunftssprachenunterricht nach dem Konsulatsmodell nicht geleistet werden: Die Bildungspläne stammen aus dem Herkunftsland, die Lehrkräfte werden dort ausgebildet und auf fünf Jahre befristet entsandt. Dadurch sind sie weder auf die spezifische sprachliche (zweisprachige) und soziokulturelle (bikulturelle) Situation der Kinder mit Migrationshintergrund vorbereitet noch mit den Methoden, Inhalten und Grundlagen der deutschen Schule vertraut. Ein Teil der aus den Heimatländern entsandten Lehrkräfte beherrscht die deutsche Sprache nicht oder zu wenig, um die Kooperation zwischen dem herkunftssprachlichen Unterricht und den anderen Fächern des Regelunterrichts zu gestalten.
Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt sind in einem einheitlichen europäischen Bildungsraum nötig, um einander zu verstehen, zusammenhalten und erfolgreich arbeiten und handeln zu können. Dies ist die Sicht der aktuellen Mehrsprachigkeitspolitik der Europäischen Union. Auf dem Sozialgipfel in Göteborg am 17.11.2017 hat sie das Ziel proklamiert, dass bis 2025 jeder EU-Bürger außer seiner Muttersprache zwei weitere Sprachen sprechen soll.[1] Dieser Forderung muss eine gute und zukunftsorientierte Bildungspolitik des Landes Baden-Württemberg Rechnung tragen.
In 12 von 16 Bundesländern wird bereits herkunftssprachlicher Unterricht in staatlicher Verantwortung erteilt. Die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung des Landes muss sich auch im Unterricht abbilden.
Mittelfristig muss das Ziel die Erteilung von Herkunftssprachen als reguläre versetzungserhebliche Schulfächer sein[2].
Kurzfristig ist mindestens die Veränderung der Fremdsprachenregelung in der aktuellen Verwaltungsvorschrift des Kultusministeriums[3] nötig: Sie muss für alle Schularten die Überprüfung der Herkunftssprache als Ersatzfremdsprache vorsehen und das Ergebnis als versetzungsrelevante Fremdsprachennote ins Zeugnis eintragen lassen. Dies muss auch für die Oberstufe an Gymnasien und für Schulabschlussprüfungen gelten. Dies ist zum Ausgleich der Benachteiligung nötig: Wer als anderssprachige Person noch mit dem Erwerb der deutschen Sprache als Zweitsprache in der Dimension Bildungssprache beschäftigt ist, kann nicht im selben Tempo auch noch eine neue erste Fremdsprache bewältigen.
Der LAKA (Landesverband der kommunalen Migrantenvertretungen Baden-Württemberg) hat in seiner Vollversammlung vom 23.03.2019 gefordert, den Vorschlag der Initiative von Prof. Dr. Havva Engin (Hei-MaT e.V.), der GEW Baden-Württemberg und der SPD-Fraktion aufzugreifen und umzusetzen: Als erster Schritt zur Einführung von Herkunftssprachenunterricht an Regelschulen soll in einem fünfjährigen Schulversuch an 90 Schulen 2-5 stündiger Unterricht einschließlich Materialien konzipiert, erprobt, wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden. Sprachkompetente Personen sollen von der PH Heidelberg für eine Lehrbefähigung qualifiziert werden. Bisher tätige Lehrkräfte der Herkunftssprachen können einbezogen werden, wenn sie an der Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen. Das Kultusministerium geht auf diese Vorschläge bisher nicht ein (Landtagsdrucksache D 16/4380). Auch eine adäquate Ersatzfremdsprachenregelung für zugewanderte Schüler, wie sie im Anhörungsverfahren für die Verwaltungsvorschrift von GEW und LAKA vorgeschlagen worden war, wurde vom Kultusministerium nicht berücksichtigt. Daher reicht der LAKA diese Petition an den Petitionsausschuss des Landtags ein. Die Petition ist registriert unter 16/04158.
[1]COM (2017) 673, COM (2018), 272
[2]Bis dahin sind noch alle Formen von Herkunftssprachenunterricht nötig, die derzeit existieren: Unterricht durch Konsulate, derzeit in 14 Sprachen, sowie Initiativen wie z.B. der Arabischunterricht in Überlingen
[3]Az 31-6640.0/908, Erlassdatum 31.05.2017, gültig ab 01.08.2017, K u.U. 2017,95, www.landesrecht-bw.de/portal/portal/t/6i5/page/bsbawueprod.psml?doc.hl=1&doc.id