Helene Khuen-Belasi hält Laudatio bei der Verleihung des Karlsruher Integrationspreises

Preisträger*innen und Laudator*innen bei der Verleihung des Karlsruher Integrationspreises am 21.05.2019

Helene Khuen-Belasi, Mitglied des Vorstandes des LAKA, hielt bei der Verleihung des Integrationspreises der Stadt Karlsruhe am 21.05.2019 die Laudatio für Roman Marhulis:

Ich habe mich sehr gefreut, als ich gebeten wurde, die Laudatio für Roman Marhulis zu halten, denn ich habe sein Wirken von Anfang an mitbekommen. Der allererste Eindruck, als ich ihn sah: Ein Mann mit heller, wohlwollender Ausstrahlung.

Vor der Ausreise

Roman Marhulis wurde im Oktober 1950 in L`wow in der westlichen Ukraine geboren, noch zu Stalins Lebzeiten, und ist dort aufgewachsen.

L`wow war ein bedeutsames Handelszentrum auf dem Weg von Mitteleuropa zum Schwarzen Meer. In seiner wechselvollen Geschichte haben im Lauf von Jahrhunderten Litauer, Tataren, Polen, Ukrainer, Österreicher und andere einander zu unterwerfen versucht.  Für uns Deutsche ist von Bedeutung, dass die Stadtbevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Drittel jüdisch war. Vor 1939 gab es 97 Synagogen. Nach dem Angriff der Wehrmacht auf Polen und die Sowjetunion wurden dort weit über 100.000 Juden umgebracht. Nur wenige Hundert haben überlebt. Die Alliierten beschlossen auf der Konferenz von Jalta, L`wow und den dazugehörigen Kreis der Ukrainischen Sowjetrepublik zuzuschlagen.

Roman Marhulis hatte 1966 die elfjährige allgemeinbildende Mittelschule mit der

Hochschulreife abgeschlossen. Der polytechnische Unterricht in der Sowjetunion vermittelte nicht nur eine solide Allgemeinbildung, sondern auch eine berufliche Qualifikation, in diesem Fall die eines Chemielaboranten. Roman Marhulis hätte an der liebsten Medizin studiert. Dem stand eine Kleinigkeit entgegen. Im Unterschied zu unseren Personenstandsurkunden enthielten die Dokumente in der Sowjetunion den Punkt 5, in dem die Nationalität abgefragt wurde. Bei Spätaussiedlern stand da „Deutscher“, was nach dem Zweiten Weltkrieg Aversionen hervorrief. Bei Roman Marhulis stand „Jude“.  Antisemitismus gab es auch in der Sowjetunion. Zum Ende der Stalinzeit hatte es die so genannten „Ärzteprozesse“ gegeben, in denen jüdische Mediziner angeklagt und verurteilt worden waren. 1966 drohte einem 16jährigen kein Prozess wegen seiner Nationalität, aber eine Bewerbung um einen Medizinstudienplatz hatte keinen Sinn. Also arbeitete der junge Mann ein Jahr als Chemielaborant.

Da Sport ein Lieblingsfach gewesen war, studierte er Fußball, Fechten, Schwimmen und Leichtathletik und schloß 1972 mit Auszeichnung ab. Ins Studium integriert waren Praktika in Schule, Hochschule und Verwaltung.

In der Sowjetunion war der Breitensport kostenlos und staatlich über Gewerkschaften organisiert. Roman Marhulis stieg als Lehrer und Trainer in die Sportschule für Kinder und Jugendliche des Betriebs „Elektron“ ein, mit 40.000 Beschäftigten, die Fernseher produzierten. Nach einigen Jahren wurde er stellvertretender Schulleiter. In den 80ern holte man ihn als Direktor in die regionale Schule für die olympische Leichtathletik-Reserve von Kindern und Jugendlichen. 

Dann fiel der Eiserne Vorhang, vieles sortierte sich neu. 1990 übernahm Roman Marhulis die regionale Verwaltung von 20 Sportschulen für Kinder und Jugendliche, mit insgesamt 6.000 Schülerinnen und Schülern und etwa 100 Mitarbeitern. Hier arbeitete er bis zur Ausreise.

1991 stellte er den Antrag, als jüdischer Kontingentflüchtling in Deutschland aufgenommen zu werden. Andere Verwandte hatten dies bereits getan. Die Sowjetunion zerfiel, die Wirtschaft brach zusammen, Armut und Verunsicherung nahmen zu, und mit ihnen Animositäten, Feindseligkeiten und die Gefahr sich zuspitzender Eskalationen. Auf dem Hintergrund jüdischer Erfahrungen in der Sowjetunion war Auswanderung geraten.

Nach der Einreise nach Deutschland

1998 kam Roman Marhulis mit seiner Tochter in Karlsruhe in der Landesaufnahmestelle an. Seine Frau kümmerte sich noch um ihren alten Vater und kam später nach. Dann kam er nach Adelsheim, „Badisch Sibirien“, wie man ihm erklärte, was ihn sehr belustigte. Das Übergangswohnheim stand neben der Jugendvollzugsanstalt. Was tat er? Er organisierte die jugendlichen Bewohner des Übergangswohnheims in sportlichen Aktivitäten.

Am 01.08.1999 kam er mit der Tochter nach Karlsruhe. Am 01.06.2000 war er bereits Mitarbeiter der Stadt. Wie war das möglich?

In den 80er Jahren waren Migranten oder Spätaussiedler noch keine ausgemachten Zielgruppen für sportliche Programme von Kommunen. Der Bund hatte seit den 70er Jahren Jugendgemeinschaftswerke installiert, das waren Fachdienste zur Integration jugendlicher Spätaussiedler und DDR-Zuwanderer. Das Konzept integrierte Beratung mit Jugendclubs und Sportangeboten. Als ich 1977 in Karlsruhe anfing, diese Stelle aufzubauen, startete auch ich Sportangebote, in Kooperation mit Stadt und Schulen. 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion kamen viele Spätaussiedler nach Deutschland, 1991 waren es bundesweit 400.000.  Als die Stadt Karlsruhe 1999 einen russischsprachigen Sportlehrer suchte, der Zugang zu jugendlichen Spätaussiedlern finden sollte, rief mich Herr Bürger an, und ich wusste sofort: Das ist ein Angebot für Roman Marhulis!  Das Sportfest auf dem Marktplatz im Mai 2000 war sein Startschuss. 2001 gab es Schlagzeilen: Unter den Drogentoten waren 20 % Spätaussiedler – was tun? Der Drogenberater rief alle zusammen, Sportangebote schienen angesagt. Bis dahin gab es schon nicht wenig: Volleyball, Schwimmen, Fußball, Tanzen – das alles wurde nun integriert und intensiviert. Bund/Land/Kommune schufen Programme: Integration durch Sport, Sport auf der Straße, Integration mit Sport… 

Der Karlsruher Erfolg auf diesem Gebiet entwickelte sich aus der Vernetzung des Schul-und Sportamtes mit vielen Kooperationspartnern. Als Roman Marhulis am 2.November 2017 aus dem Schul- und Sportamt schied, übergab er eine Palette von 22 Sportangeboten, die er betreut und entwickelt hatte.

Ich frage: Roman, was war für Sie am schwierigsten?  Er überlegt. „Die jungen Leute, die sich abends vor der Anne-Frank-Schule in Oberreut und anderswo versammelten, hielten mich zunächst für einen russischsprachigen Polizeispitzel!“

„Und was war Ihnen wichtig?“ „Dass sie mit der Zeit verstanden haben, dass es darum geht, hier einen Platz zu finden und dass es diesen Platz geben kann. Heute kommen Jugendliche von damals mit ihren Kindern in die Sportangebote, hier sind sie zuhause!“

Ein Highlight der Tätigkeit von Roman Marhulis in Karlsruhe war 2006 die Ausrichtung der ersten Weltmeisterschaft der Sportdisziplin „Gorodki“ in Deutschland, 2017 der zweiten. Was ist das? Eine Mischung von Kricket, Kegeln und Eishockey. Der Teilnehmer muss mit einem Wurfstab möglichst viele Holzklötzchen unterschiedlicher Form von einer begrenzten Fläche entfernen. So was spielten Bürger in der Sowjetunion, und Karlsruhe hat sich diese Sportart einverleibt. Noch ist es kein deutschlandweiter Lieblingssport, aber Weltmeisterschaften in Karlsruhe sind möglich…

Ehrenamtlich fördert Roman Marhulis im Sportverein Maccabi e.V. Sport und Freizeitgestaltung.

Ich fragte Gesprächspartner: Was verbindest Du, verbinden Sie mit Roman Marhulis?

Du kannst dich auf ihn verlassen, auch in Kleinigkeiten

Wenn er sagt, du fliegst raus, wenn du das und das machst, kannst du dich darauf verlassen, dass das so sein wird.

Er wird alles, was ich ihm anvertraute, bei sich behalten

Er war für mich wie ein Vater

Er widmet sein ganzes Leben der Integration durch Sport

Zusammenfassung:

Manchen Menschen gelingt es, ihre Fähigkeiten zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Sehr viel seltener gelingt es Menschen, dies nach Brüchen in ihrem Leben fortzuführen.

Wir feiern heute Roman Marhulis, weil er uns diese Möglichkeit als erreichbar vorführt: Auch wenn ich neu anfangen muss, ist es nötig, sinnvoll und möglich, mich auf das zu besinnen und zu beziehen, was ich bisher war und einbringen kann – wenn ich dazu die Chance bekomme.